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Gruselgeschichte: Gottkomplex

gottkomplex
4.2
(89)

„Christo, du alter Dreckskerl, was ist bloß aus dir geworden?“, flüsterte ich mir selbst zu. Noch ein tiefer Zug aus der Vodkaflasche. Der Geschmack dieses himmlischen Wassers brannte mir auf der Zunge und rann mir wie Feuer die Kehle hinunter. Immerhin vertrieb das die verdammte Kälte.

Ein weiterer Schluck, ja, das wäre jetzt das Richtige gewesen. Aber in den letzten dreißig Minuten hatte ich das ganze Zeug in mich aufgesogen wie ein Schwamm.

„Ach… Sei’s drum.“ Mit einem hohen Bogen flog die Flasche durch die Luft und zersplitterte an der Kirchentür.

Ich tastete meine Lumpen ab. Irgendwo musste ich doch noch was von dem guten Schnaps haben. Nein. Alles leer gesoffen. Aber da war auch kein Geld, um sich noch mehr von dieser guten Medizin gegen die Realität zu kaufen.

Ich lehnte mich an die von Raureif bedeckte Steinmauer und wickelte mich mit meinen Lumpen ein. Bis die Wirkung einsetzen würde, würden wohl noch einige Minuten vergehen. Bis dahin musste ich die Kälte aushalten.

„Wie in den letzten gottverdammten fünftausend Jahren.“

Kurz überlegte ich, was ich da gerade gesagt hatte. Dann begann ich zu lachen. Diese Ironie war einfach herrlich.

Die Kirchenglocken läuteten mich in einen unruhigen Schlaf. Der Schnee schmolz dahin und machte heißem Wüstensand platz. Der Geruch nach Alkohol und Zigaretten verschwand. Nun spürte ich nur noch eines: Die Melancholie meiner Kindheit und Jugend.

Ihr wäret auch süchtig nach diesem Teufelszeug, wenn es der einzige Weg wäre, eurer Vergangenheit näher zu sein.

Im Wüstensand standen sie über mir, redeten auf mich ein. Meine Familie. Ihre Gesichter waren wutverzerrt. Sie stießen wüste Beleidigungen aus.

„Mutter, Vater! Nein! Nicht schon wieder! Es tut mir leid!“

Sie stoppten nicht und sprachen weiter. Eine schemenhafte Gestalt, ein ausgefranster Schatten hob mich hoch. Einer aus der Menge. Die anderen traten mich zurück in das glühende Meer aus Wüstensand.

Dann hörte ich den Satz, der mir seit Jahren durch den Kopf geisterte:

„Du bist nicht mehr mein Sohn. Nicht würdig, hier zu sein. Verschwinde. Verschwinde einfach.“ Die Enttäuschung in diesen Worten hatte mein Herz schon oft zum Stillstand gebracht. Herzlos. Ehrenlos.

Weinend lag ich im Wüstensand. Meine Tränen durchnässten den Boden und gefroren. Dann verwandelte sich der Sand wieder zu Schnee.

An die Steinwand gekauert spürte ich die gefrorenen Tränen auf meinem Gesicht. Vor all den Jahren hatte ich mein Leben verspielt. Ich war von meinen Eltern verstoßen worden.

„Aber selbst habe ich es nicht besser gemacht.“

Eine Gestalt trat vor mich.

„Na Dad? Wo bist du bloß gelandet?“

„Es tut mir leid, Sohn.“

„Ah, das Verstoßen liegt bei uns Bastarden wohl in der Familie. “ Die Medizin gegen meine Realität. Wie ein Anfacher für Alpträume.

„Dad, warum hast du mich verstoßen? Weil ich nicht das tun wollte, was du tust?“

„Nein, nein. Das ist es nicht. Es ist…“

„Weil ich diese schwächlichen Primaten nicht so toll fand, wie du und meine Brüder? Ist es das?“

Er sprang auf die Mauer, hob den Kopf und schrie in die Nacht hinaus:

„Mein Vater hasst mich! Er hasst mich und…“

Er begann zu lachen. „…es freut mich verdammt nochmal!“

Ich wandte mein Gesicht ab. Mein Sohn sollte die gefrierenden Tränen nicht sehen. Sein alter Herr sollte keine Schwäche zeigen. Kein Triumph für den Kleinen.

Er sprang von der Mauer herunter und landete elegant vor mir.

„Sag mir bitte eines. Warum lässt du sie leben. Gefallen sie dir?“

Der Kleine versetzte mir psychische Tritte in die Magengrube. Schlimmer als jeder Messerstich zerschnitten sie meinen Geist. Das musste ich mir nicht gefallen lassen. Nicht noch einmal. Ich wandte ihm mein Gesicht zu.

„Sie haben das nicht verdient. Sie tun das, was sie tun sollten.“

„Aber warum Daddy? Du wolltest, dass wir uns vor ihnen verbeugen. Und mich hast du verbannt, weil ich dem Willen meines-„, er schmunzelte „-meines gottverdammten Vaters nicht gehorcht habe! Was war so toll an ihnen?! Hm?!“

„Sie sind jetzt hier. Du hast deine Strafe erhalten.“

„Ich glaube dahinter steckt bloß dein großer Traum. Du wolltest doch schon immer kleine Kreaturen, die du wie Schachfiguren umherschieben und über sie bestimmen konntest. Und in den Menschen fandest du die Bauern dieses Schachspiels.“

Er wusste nichts. Absolut nichts. Dieser Kleine hatte doch keine Ahnung!

„Ich wollte, dass sie eigenständig sind! Eigene Entscheidungen treffen! Sie sollten Leben, wie es ihnen gefällt!“

„Das, wie fühlt es sich an, dass dieser Traum wahr wurde? Die Menschen konnten Entscheidungen treffen, und trafen die Entscheidung, sich von dir, ihrem Gott, abzuwenden. Dein Traum ist wahr geworden, Dad. Die Menschheit hasst dich!“

„…Es ist… Das Los, das ich gezogen habe…“

„Warum hast du geschaffen? Wofür wurden die Menschen geschaffen? Um zu verfallen? Aber diesen Job übernimmst ja du gerade. Du stirbst.“

Ich starrte ihn an, und sagte zögernd:

„Sohn… Ich… Liebe dich.“

„Ach was!“ brüllte er. „Du hast Jesus und die anderen Engel doch immer viel mehr geliebt! Aber für Samael hattest du nie etwas übrig! Der erste aller Engel, und du verstößt ihn für einen kleinen Fehler! Ich bin nicht Satan. Das ist bloß das, was du aus mir gemacht hast! Ich bin nicht der Teufel, ich bin Samael. Willst du da bloß was kompensieren?! Du hast einen Fehler begannen. Ich habe einen Fehler begangen. Wir beiden wurden von unseren Eltern für einen kleinen Fehler verbannt. Wir dreckigen Bastarde sind wohl nicht mehr wert!“

Er streckte mir die Hände entgegen. In der linken hielt er eine Vodkaflasche. In der Rechten lag ein Strick.

„Dad. Wähle einfach. Wähle deine große Liebe, den Alkohol, und ein dreckiges Hundeleben. Oder sterbe. Sterbe einfach.“

Die stille Nacht erdrückte mich. Ich schaute auf seine Hände. Dann wusste ich es. Ich stand auf, trat vor, schaute in das Gesicht meines Sohnes und sagte:
„Erinnere all meiner Sünden. Bitte.“

Ich streckte die Hand aus, und nahm den Strick.

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