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Gruselgeschichte: Holodomor

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4.1
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Es begann 1932, in einem harten Winter, das Jahr neigte sich dem Ende zu. Niemand ahnte Anfang des Jahres was noch auf uns zukommen würde. Wie ein schlechter Traum, doch kein Albtraum währt so lange und normalerweise wacht man am Ende auf. Das Land war in Unruhe aufgrund der roten Seuche, die bei uns und in unseren Nachbarländern kursierte. Als wäre dies nicht genug, kamen dann auch noch Monster in unser Land geschlichen… Anfangs war schwer absehbar, wie viel Schaden sie anrichten würden, denn sie waren wie Schatten, keiner sah sie kommen, keiner hörte sie, es war unklar, was sie wollten. Wir nannten sie die Holodomor.

Bald stellte sich jedoch heraus, was sie wollten. Jene Kreaturen fraßen alles Essbare. Unser Vieh, Obst, Gemüse, Nüsse, Beeren, Pilze und sogar wenig schmackhafte Kräuter, die selbst von alten Kräuterweibern gemieden wurden aufgrund ihrer Bitterkeit. Aber vor allem nahmen die Holodomor uns unser Getreide. Nicht nur das, welches schon geerntet war und in Silos und Scheunen gelagert wurde, nein, sie fraßen es direkt von den Feldern. Nicht allzu viele Wochen vergingen und es gab nichts mehr zum Handeln und somit auch nichts mehr, dass man gegen Nahrung hätte eintauschen können. Eine absolute Katastrophe für ein Land, das größtenteils aus Bauern bestand… Wir wurden hungrig… Oh wie hungrig wir waren…

In meiner Not versuchte ich einmal, in der nächsten Stadt etwas zu essen zu kriegen, aber die Wachen ließen mich gar nicht erst rein. Sie schützten die Stadt vor den Holodomor und waren sehr streng, Bauern durften nicht rein, sie drohten mir mit gezogener Waffe. Von anderen hörte ich, dass sie sich auf Güterzüge schlichen, um etwas Essbares zu finden, aber das war sehr gefährlich, sie wurden runtergeworfen, selbst als die Züge fuhren, ich war noch klein, das traute ich mich nicht.

Mein Nachbar, Herr Kowalenko, war einst ein üppiger Bauer. Es dauerte nicht lange und man sah, wie sich seine Ellenbogen und Knie beinahe durch seine Haut bohrten, es war leicht, seine Rippen zu zählen. Ich gab ihm mal ein kleines Stückchen Fleisch, ich hatte so viel Mitleid mit ihm, er war immer so ein netter Mann und ließ mich mit seinen Hühnern spielen, als er noch welche hatte… Irgendwann hörte ich, wie er durchfahrende Soldaten anbrüllte .“Day meni chlib!“ („Gebt mir Brot!“) schrie er und wiederholte es. Aber sie hatten wohl nichts. Ich dachte damals, die Soldaten würden die Holodomor bekämpfen…

Auch Kinder sah man auf den Straßen, die nach Broten schrien, doch es gab irgendwann nichts mehr zu essen, alles war geplündert, die Holodomor waren schlimmer als eine Heuschreckenplage. Hatten wir so schwer gesündigt, dass wir die Holodomor verdient hatten? Ich kann es mir nicht vorstellen… Doch nicht nur der Nahrungsmangel wurde zum Problem. Die Menschen waren so sehr in Not, dass man sich vor seinem Nächsten hüten musste…

Als ich ins nördliche Nachbardorf ging, um nach meinem Freund Taras zu sehen, ich hatte ihn schon viele Wochen nicht gesehen, sah ich eines der vielen bunten Plakate. Es war ein Plakat von der Regierung, ich mochte die Motive, man hat damals nicht viele bunte Bilder gesehen. Lesen fiel mir damals noch schwer, ich war noch nicht lange in der Schule und ohnehin nur ein Bauernkind. Aber dieses eine Mal nahm ich mir die Zeit, es zu lesen, ich weiß nicht genau warum, meistens tat ich das nicht. Auf dem Plakat stand: „Eure Kinder zu verspeisen ist ein barbarischer Akt“. Ich hatte diese Worte damals nicht richtig verstanden, natürlich ist es ein „barbarischer Akt“, seine Kinder zu essen, wozu das Plakat? Ich fand es lustig, das weiß doch jeder, dass man das nicht darf! Wer würde schon sowas Abscheuliches tun? So dachte ich. Der Weg zu Taras‘ Haus war nicht gerade kurz, ich sah einen verhungerten Mann an einen Baum gelehnt. Er hatte einen Ring am Finger, den nahm ich ihm weg, ich war nicht gierig, aber ich hoffte den Ring irgendwo gegen etwas Essbares eintauschen zu können. Als ich ankam, hatte Taras Mutter Probleme, mich wiederzuerkennen, ich war sehr mager, aber sie war zu dem Zeitpunkt schon fast Haut und Knochen. Sie schickte mich weg, sie sagte, dass die Holodomor meinen Freund Taras aufgefressen hätten. Ich weinte und sie nahm ein Halstuch und band es mir um den Hals. Sie sagte mir, ich solle gut darauf aufpassen. Ich war traurig. Später bemerkte ich Blutflecken am Halstuch.

Mein Bruder Andreij war um 2 Jahre älter als ich. Er kam irgendwann auf die Idee, etwas von einem Feld zu stehlen, welches zur Stadt gehörte und überaus gut bewacht wurde. Ich warnte ihn und sagte ihm, dass das zu gefährlich sei, aber er wollte ein Held sein, Mama und mir etwas Essbares mitbringen. „Ganz heimlich in der Nacht wird es schon klappen.“, meinte er. Aber die Wachen haben ihn erschossen, so wie Hunderte vor ihm, sie wurden zum Fressen für die Holodomor, armer Andreij… Zuerst nagt der Hunger am eigenen Fett, dann an den eigenen Muskeln und dann am Verstand, und so starb er… Ich wurde Zeuge, wie mein lieber Bruder Andreij eingesammelt wurde, die Wachen erhielten 100 Gramm Brot für seine Leiche, darum sammelten sie ihn ein, nicht um ihn zu begraben. Einer von uns war hundert Gramm Brot wert… für hundert Gramm Brot hätte ich alles gegeben.

Irgendwann wurde die Nahrung auch für die Städter knapper, und dann bekamen auch die Wachen Hunger. Es waren keine Leichen mehr da, welche sie gegen Brot hätten tauschen können. Ich dachte, ich hätte bis hierhin jeden Schrecken gesehen, aber weit gefehlt. Irgendwann kamen die Wachen in unser Dorf, ich versteckte mich gut auf einem Baum, sehr weit oben, und beobachtete wie sie meinen Nachbarn, Herrn Kowalenko, mitnahmen, obwohl er noch lebte. Er lebte! Lieber Gott, er war noch am Leben! Es war den Wachen egal, der Hunger vernebelte ihnen das Hirn und sie schleppten ihn fort. Aus sicherer Distanz folgte ich ihnen. Herr Kowalenko war zu schwach, um sich zu wehren, und mit vielen Anderen wurde er lebendig begraben. Er wurde in ein vorbereitetes, nicht einmal besonders tiefes Loch geworfen, auf einem Feld, das von den Holodomor geplündert wurde, und er wurde bei lebendigem Leibe zugebuddelt. Kein Gebet, kein Mitleid, keine Menschlichkeit. „Zemlya rukhayet’sya!“ („Die Erde bewegt sich!“), rief ein Mädchen, die das genau wie ich beobachtete. Nach ihrem Ruf blickte ich genau hin, es war schon fast dunkel und das ganze Feld waberte nur so vor sich hin, von den letzten Bewegungen der lebendig Begrabenen… Ich erstarrte vor Grauen in meinem Versteck. Weinen tat ich schon lange niemand mehr, keiner hatte mehr genug Salz im Körper für so etwas. „Zemlya rukhayet’sya!“ („Die Erde bewegt sich!“), rief sie erneut. Ihre Stimme war zart, ich werde den Ruf nie vergessen und auch nicht das anschließend folgende, dumpfe Geräusch, als eine Schaufel sie am Kopf traf und auch sie in einem Loch landete und zugebuddelt wurde. Wenigstens war sie tot.

Ende 1933 zogen die Holodomor weg. Nur der Teufel weiß wohin und weswegen, es war nichts mehr zu holen, die Felder lagen brach. Knochige Leichen lagen auf den Straßen. Ich überlebte dank meiner Mutter, Vater war längst tot. Schon vor den Holodomor. Meine Mutter hackte sich ihren Arm ab, und Wochen später ihr Bein. Sie ernährte mich und Andreij damit. Natürlich wollten wir das nicht, aber sie tat es einfach. Als der Arm erst ab war, konnten wir ihn nicht einfach wegwerfen, es wäre so eine Verschwendung gewesen und all der Schmerz, den meine Mutter sich zufügte, wäre umsonst gewesen… Und wir waren so hungrig… Als Andreij starb, war mehr für mich da, ich glaube, nur dadurch überlebte ich. Mama ist nun auf ewig ein Teil von mir. Danke Mama. Ich bin der Einzige aus meiner Familie, der überlebt hat.

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